November 2010: Die ehemalige Sowjetrepublik Kirgisistan lebt vor allem vom Zwischenhandel: Waren aus China werden hier umgeschlagen und dank günstiger Zollgesetze preiswert ins Ausland weiterverkauft. Doch dieser Handelsweg stagniert, seit die bisherigen Abnehmerländer einer Zollunion beitraten und kaum noch Waren ordern.
Großmarkt Dordoi
Auf dem Dordoi-Markt in Kirgisistan ist Agmatov Tiljeg ein winziges Rädchen in einem riesigen Getriebe. Als Hilfsarbeiter und Lastenträger hält er den Betrieb auf einem der größten Basare Zentralasiens am Laufen. Zwischenhändler, Verkäufer und Ladenbesitzer buchen ihn für ein paar Stunden, damit der Tagelöhner ihnen die ausgesuchten Waren durchs Gewirr des Marktes wuchtet. Wenn Agmatov Glück hat, verdient er bis zu neun Euro am Tag. Wenn er Pech hat – verdient er gar nichts. Und wenn das häufiger passiert, drohen Kirgisistan die nächsten Unruhen. Agmatov Tiljeg erzählt auch, dass sie während der letzten großen Krise 15 bis 20 Tage lang überhaupt keine Arbeit hatten. Manche von den Hilfsarbeitern haben dann angefangen andere Leute zu überfallen – aus Angst, sonst nicht überleben zu können. Solange Händler aus Russland und China hier gute Geschäfte machen, solange hat Agmatov Arbeit und Kirgisistan ein wirtschaftliches Rückgrat. Doch die Geschäfte laufen immer schlechter und immer öfter sitzt Agmatov mit seinen Kollegen tatenlos in der kleinen Gaststube des Marktes. Er ist nicht allein. Über 20.000 Menschen finden Arbeit in der riesigen Containerburg – insgesamt eine halbe Million Kirgisen sind abhängig vom Dordoi-Markt. Ein günstiges Steuersystem hatte den kirgisischen Markt zum beliebten Umschlagplatz gemacht. Waren aus China werden von hier aus weiterverkauft nach Europa – über Russland, Kasachstan und Weißrussland, die sich jetzt zu einer Zollunion zusammengeschlossen haben. Dadurch werden die Exporte der Kirgisen teurer. Das bekommen die Lastenträger und die Händler unmittelbar zu spüren.
Mit der WTO oder mit Russland
Russland drängt Kirgisistan der Zollunion beizutreten. Doch dafür müsste das Land wahrscheinlich die Welthandelsorganisation, die WTO, verlassen. Das versuchen jetzt die Amerikaner zu verhindern. Tapio Naula arbeitet mit einem Kollegen für das amerikanische Außenministerium. Sie wollen Kirgisistan zum Verbleib in der WTO bewegen. Sie machen Lobbyarbeit auf diplomatischem Parkett und bei den Händlern vor Ort. Schließlich geht es auch um den politischen Einfluss Amerikas in Zentralasien. Tapio Naula von der USAID berichtet, dass Kirgisistan vor einigen Jahren ein neues Zollsystem eingeführt hat, um die Abgaben für die Händler zu erleichtern. Deshalb konnten die Händler Waren aus China sehr günstig importieren und sie dann wieder mit hohen Gewinnraten exportieren, zum Beispiel nach Russland und Kasachstan. Das ist mit der Zollunion jetzt nicht mehr möglich, oder zumindest nur noch sehr viel schwerer.
Rückgang beim Handelsvolumen
Teilweise ist das Handelsvolumen um bis zu 70 Prozent gesunken. Die Händler von Dordoi suchen verzweifelt nach neuen Geschäftsideen. In einer ehemaligen Lederfabrik neben dem Markt werden Räume an kleine Textilunternehmen vermietet. Doch der Verkauf läuft schleppend. Billigwaren gibt es genug auf dem Markt. Und auf lange Sicht werde man nicht mit den Chinesen konkurrieren können – die produzieren noch billiger, fürchtet die Unternehmerin. Die Textilunternehmerin Nadjeschda Welijeva erzählt uns, dass Kasachstan keinen großen Willen mehr zeige, weiter Waren von den Händlern aus dem eigenen Land zu importieren. Die Zollunion würde ja vor allem gegründet worden sein, um ihre eigenen Märkte zu schützen. Allerdings ist die Arbeit dort noch teurer als in Kirgisistan, weshalb sie im Moment auch noch bestellen. Vor allem gefälschte Markenware, auch deutscher Unternehmer, hält die Näherei bis jetzt am Laufen. Doch selbst diese illegalen Geschäfte können einen funktionierenden Dordoi-Markt nicht ersetzen. Es wird bereits dunkel, als Agmatov Tiljeg endlich vom Markt nach Hause kommt. Auch er muss mit seiner Arbeit eine ganze Familie ernähren. Gemeinsam mit Verwandten haust er in einem Slum in der Nähe des Marktes. Eigentlich würde er gern studieren oder eine eigene Werkstatt gründen. Doch alle Ersparnisse schickte er seinen Eltern ins Heimatdorf – etwa 15 Euro pro Monat. Außer dem Geld fürs Essen bleibt wenig übrig. Seit 2 Monaten lebt er nun schon mit 2 Kollegen in ein und demselben Zimmer ohne Heizung. Für mehr reicht das Geld nicht.
Schlüsselposition Großmarkt
Von dem Kampf der russisch geführten Zollunion und der WTO um Einfluss in Kirgisistan weiß Agmatov wenig. Er und seine Kollegen sind froh über eine warme Mahlzeit am Tag und eine Unterkunft. Doch wenn ihnen die große Politik auch das noch nimmt, werde es wieder Unruhen geben in Kirgisistan, meint Agmatov. Rund zehn Prozent aller Kirgisen sind vom Großmarkt Dordoi abhängig. Sollten hier die Geschäfte irgendwann für immer schließen müssen, könnte ein ganzes Land ins Chaos stürzen.